Deutsch-Polnische Gesellschaft Senden erkundet Weimar als „Stadt mit zwei Gesichtern“
In sechs Tagen hatten Mitglieder der DPG Senden die Gelegenheit, Weimar als Brennpunkt deutscher Geschichte, als Stadt von „Zeitenwenden“, als Stadt mit unterschiedlichen Gesichtern zu entdecken. Zentral war die Auseinandersetzung mit der Frage, wie in der Kulturhauptstadt von 1999 aus dem Geist der Klassik, der Stadt, die der ersten deutschen Republik den Namen gab, die Musterstadt des Nationalsozialismus wurde und Hitlers Lieblingsstadt.
Die Teilnehmer:innen erfuhren, dass Aufklärung und Klassik als Suchbewegung nach einer Form des humanen Zusammenlebens verstanden werden können, die sich im Kontext eines aufgeklärten Absolutismus entfalten konnte. Die Klassik habe, in Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, die Frage der Menschenwürde neu gestellt und im Menschen ein moralisches Wesen erkannt, dass sich durch Bildung vervollkommnen könne. Das Denken, für das Goethe und Schiller stehen, habe Maßstäbe gesetzt und die Werte begründet, die unsere Demokratie ausmachen. Auch die Bauhaus-Bewegung, die für den demokratischen Aufbruch in die Moderne steht, knüpfte daran an.
Tourist:innen, die Weimar besuchen, wollen dem „goldenen Zeitalter“, der Zeit der Klassik, nachspüren. Die Marketingstrategie der Stadt ist darauf ausgerichtet, diesen Glanz selektiv zu präsentieren. Dafür konnten zahlreiche Indizien gefunden werden.
Im Rahmen des Vorhabens sollte diese einseitige Sichtweise hinterfragt werden. Thema war die Auseinandersetzung mit der besonderen nationalsozialistischen Vergangenheit Weimars, deren Spuren immer noch unübersehbar sind. Der Besuch des ehemaligen Marstalls (Sitz der Gestapo mit Kellergefängnis) und Gauforums warf viele Fragen auf, die geklärt werden mussten. Warum konnten die Nationalsozialisten ausgerechnet in der „Klassikerstadt“ schon 1926 einen Reichsparteitag abhalten? Warum stellte die NSDAP in Thüringen schon 1930 den Innenminister? Mit welchen Maßnahmen gelang es in kurzer Zeit, die Stadt Goethes und Schillers zu einer nationalsozialistischen Musterstadt umzugestalten?
Erklärungsversuche konnten in der ausgesprochen nationalistischen Durchdringung der Stadt gefunden werden. Sie galt im ausgehenden 19. Jh. als „Hauptstadt des deutschen Kolonialismus“. Somit bot sie dem Nationalsozialismus einen besonderen Nährboden.
Beim Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald stand die Ideologie des NS, die zur Errichtung von KZ geführt hatte, im Fokus. Hinweise zu einzelnen Opfer- und Täterbiografien ließen die Abläufe im Lager anschaulich werden. Auch wurden die Nutzung des Ortes nach dem Krieg als „Sowjetisches Speziallager Nr. 2“ und seine Funktion in der Zeit der DDR angesprochen. Eine zentrale Frage war, wie es sein konnte, dass Repräsentanten der Stadt, von Kirche und Kommune, nach Kriegsende vorgaben, um die Vorgänge im KZ nicht gewusst zu haben. Quellen lassen erkennen, dass die Barbarei der Nazis „mitten im deutschen Volke“ stattfand.
Wiederholt wurde angesprochen, wie sehr Geschichte und Geschichtsschreibung politisch beeinflusst und gezielt für Zwecke eines Staates eingesetzt werden können. Vor allem der Rundgang über die ehemalige Mahn- und Gedenkstätte der DDR, das Gelände um den sogenannten Glockenturm, machte ein Gespräch über dieses Thema notwendig. In einer besonderen Geschichtslüge, unter bewusster Ausklammerung anderer Opfergruppen, wurden kommunistische Häftlinge in der Geschichtserzählung der DDR zu ihren Gründungsvätern.
Der immer noch wenig bekannte „Erinnerungsort Topf & Söhne“ in Erfurt konfrontierte die Gruppe mit dem Thema „Arbeit und Verantwortung“. Am Ort hatten Ingenieure die Öfen und Vergasungseinrichtungen für die Vernichtungslager (auch in Auschwitz) konstruiert und gefertigt. Die Auseinandersetzung mit den anschaulichen Dokumenten ließ einerseits erkennen, wie entgrenzt moralisches Handeln der Verantwortlichen in der Firma war, andererseits, dass einige dieser Täter auch eine erkennbar menschliche Ausrichtung hatten, etwa beim Umgang mit jüdischen Beschäftigten.
Eine Führung „Jüdisches Leben in Erfurt“ schloss den Aufenthalt in der Stadt ab. Exemplarisch wurden die älteste Synagoge Deutschlands und die Mikwe an der Gera aufgesucht.
Der Aufenthalt in Weimar ließ immer wieder bewusst werden, wie sehr unsere Gegenwart mit der Zeit des Nationalsozialismus verhaftet ist. „Vergangenheit, die nie vergeht!“ In einer vorbeiziehenden Demonstration war die Parole „Deutschland zuerst“ leitend. Tageszeitungen zitierten Ostdeutsche, die sich eine starke „Volksgemeinschaft“ wünschen oder „statt pluralistischer Interessenvielfalt eine völkische Gemeinschaft“.
Dem klassischen Denken verpflichtet, dass Kunst in ihrer ganzheitlichen Ausrichtung unterstützen kann, die Würde des Menschen zu bewahren, endete das Vorhaben in Weimar mit dem Besuch der Installation „Konzert für Buchenwald“ von Rebecca Horn. Im gemeinsamen Gespräch konnten sich Teilnehmer:innen - die Inhalte der vergangenen Tage reflektierend und verdichtend - darüber austauschen, welchen Stellenwert das Erinnern, die Auseinandersetzung mit Geschichte, für den Einzelnen und die Gesellschaft habe und wie mit der Erinnerung umzugehen sei, im Sinne des Appells, der am Jüdischen Mahnmal in der Gedenkstätte Buchenwald formuliert ist: „Auf dass erkenne das künftige Geschlecht, die Kinder die geboren werden, dass sie aufstehen und erzählen ihren Kindern“.